„Raum ist in der kleinsten Hütte für ein glücklich liebend Paar“. Der Vers aus Schillers Gedicht „Der Jüngling am Bache“ ist zum geflügelten Wort geworden. Mehr als 200 Jahre später heißen die kleinen Hütten „tiny houses“ – ein Trend aus den USA, der auch in Deutschland Anhänger gefunden hat. Wie groß eine Wohnung sein muss (oder wie klein sie sein darf), um menschlichen Bedürfnissen gerecht zu werden? Diese Frage ist falsch gestellt. Sie lässt sich nur sinnvoll beantworten, wenn man auch die Umgebung der Wohnung, ja sogar den gesamten Lebensraum, in dem sich ein Mensch bewegt, in den Blick nimmt.
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Die Idee, durch einheitliche, quantitativ festgelegte Mindeststandards für lebenswerte Wohnverhältnisse sorgen zu können, prägte den Städtebau der Moderne. Führende Architekten der Bauhaus-Zeit, darunter Le Corbusier und Walter Gropius, forderten beispielsweise auf dem 3. Internationalen Kongress für modernes Bauen 1929 in Frankfurt am Main eine „Wohnung für das Existenzminimum“. Darin sollten den Bewohnern mindestens 12 Quadratmeter pro Bett zur Verfügung stehen. Doch der Kerngedanke der Bauhaus- und Gartenstadtbewegung, durch Typisierung und serielle Produktion die Baukosten zu senken und dadurch auch den ärmeren Bevölkerungsschichten ein Leben mit „Licht, Luft und Sonne“ zu ermöglichen, führte letztlich eher zum Gegenteil. Die tristen Hochhaussiedlungen der Nachkriegszeit entwickelten sich regelmäßig zu sozialen Brennpunkten. Unter dem Vorwand der Kostenersparnis wird bis heute bei den meisten Bauprojekten kein ästhetischer Anspruch mehr verfolgt – was allerdings nicht mehr dazu führt, dass neu gebauter Wohnraum dadurch für die Mehrheit der Bevölkerung erschwinglich wäre. Wie wichtig ein vielseitig nutzbarer öffentlicher Raum ist, welche Bedeutung ein angenehmes Umfeld mit Cafés, Parks, Bäumen, bequemen Bänken am Straßenrand und vielen kleinen Orten der nachbarschaftlichen Begegnung hat, damit sich Menschen mit Ihrem „Kiez“ oder dem Ort, wo sie leben, identifizieren können, geriet für lange Zeit mehr und mehr aus dem Blick.
Wohnqualität reicht weit über die eigenen vier Wände hinaus. Allein schon der Ausblick aus dem Fenster spielt eine wichtige Rolle für das Lebensgefühl, vielleicht gerade in Zeiten des Corona-Lockdowns, wo viele Menschen ungewöhnlich viel Zeit zu Hause verbringen. Ob man sich auch dann noch zu Hause fühlt, wenn man vor die Tür tritt, ob es dort geeignete Orte gibt, um sich mit Freunden zu treffen, mit dem Hund Gassi zu gehen oder Sport zu treiben, und auch, wie gut andere zentrale Lebensstationen von der Wohnung aus erreichbar sind – das alles trägt entscheidend zu einer zufriedenstellenden Wohnsituation bei. Durch die große Bedeutung dieser Faktoren relativiert sich die Frage nach der Wohnungsgröße. Damit soll keinesfalls gesagt werden, dass beengte Wohnverhältnisse kein Problem sind. Aber allein eine höhere Quadratmeterzahl pro Person löst dieses Problem nicht, wenn die Wohnung sich in einer verwahrlosten und unattraktiven Umgebung befindet, wo Fernsehen und Internet die einzigen ernstzunehmenden „Fenster zur Welt“ darstellen.
Außerdem sind die Anforderungen an die Größe der Wohnung auch individuell sehr unterschiedlich. Es gibt Minimalisten, die sich vorgenommen haben, Ballast abzuwerfen und sich auch beim Wohnen auf das Wesentliche zu beschränken. Ein „tiny house“ – ein transportables Mini-Haus mit ca. 20 Quadratmetern Wohnfläche – erscheint ihnen ausreichend, um sich wohlzufühlen, sei es allein oder mit einer kleinen Familie. Andere sammeln in ihrer Wohnung Kunstgegenstände oder benötigen mehrere Räume, allein um ihre Bibliothek unterzubringen. Denn nicht erst die Corona-Pandemie hat Wohnungen multifunktional gemacht: Neben Rückzugsräumen, Schlafstätten und Schauplätzen des Familienlebens sind sie auch Büros, Ateliers, Liebesnester, Heimkinos, Dauerbaustellen für Heimwerker, Firmenzentralen für Soloselbstständige, Probebühnen, Trainingsräume, Gourmetküchen oder Aufbewahrungsorte für Kleider-, Bücher-, Kunst-, Mineralien-, Antiquitäten- und Parfümsammlungen. Welches die wesentlichen Funktionen sind, die eine Wohnung zu erfüllen hat, unterscheidet sich von Mensch zu Mensch und von Lebensphase zu Lebensphase. Davon wiederum ist auch der persönliche Platzbedarf in starkem Maße abhängig.
Ob Menschen mit ihrer Wohnsituation zufrieden sind und ihre Wohnung als groß genug empfinden, hängt also nicht in erster Linie von der Quadratmeterzahl pro Kopf ab, sondern unter anderem von zwei weiteren Faktoren: ob die Wohnung sich in einer angenehmen Umgebung befindet, die (in ästhetischer und in sozialer Hinsicht) als erweiterter Wohnraum betrachtet werden kann, und ob sie für die individuellen Zwecke ihrer Bewohner den erforderlichen Raum bietet.
Beide Faktoren finden sich übrigens auch in Schillers Gedicht wieder, dem der eingangs zitierte Vers entstammt. Schiller versetzt seinen „Jüngling am Bache“ in eine idyllische Umgebung, die den Gedanken an die „kleinste Hütte“ als Liebesnest sofort plausibel macht: „Blumen, die der Lenz geboren“, eine Quelle mit rieselndem Gebirgsbach, eine erwachende Natur im Frühling. Inmitten solch eines romantischen Gartens käme es keinem Menschen in den Sinn, für eine heiße Liebesnacht unbedingt ein 30 Quadratmeter großes Schlafzimmer mit bequemem Doppelbett zu verlangen. Die „kleinste Hütte“ ganz nah an der Natur erscheint vielmehr sogar besser für die Zwecke eines glücklichen Liebespaars geeignet. Erst recht böte sie dem schmachtenden Jüngling eher den ersehnten Raum, sich seiner Angebeteten zu nähern, als das „stolze Schloss“, wo diese sich in Wirklichkeit aufhält – unerreichbar für ihn.
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Weiterführende Informationen finden Sie hier:
https://wastelandrebel.com/de/tinyhouse-talk-wie-viel-platz-brauchen-wir-zum-leben/
https://www.welt.de/sonderthemen/bauhaus/article186561740/Bauhaus-und-Sozialer-Wohnungsbau.html
Foto: © antstang/Depositphoto